Thema: Das Private im Privatrecht

Vor 30 Jahren fand die erste Tagung der Gesellschaft für Zivilrechtswissenschaft in Hamburg statt. Mit der Tagung 2020 kehrt sie erstmals an ihren Ausgangsort zurück. Seither hat sich unsere Gesellschaft tiefgreifend gewandelt – ein Geschehen, das wir mit Schlagwörtern wie Globalisierung, Europäisierung und Digitalisierung konzeptionell einzufangen versuchen. Diese großen Entwicklungen wirken auch auf das Recht ein. Im Zuge der Globalisierung wird die Rolle Privater bei der Durchsetzung öffentlich-rechtlicher Standards gestärkt. Aufgrund europäischer Harmonisierungsbestrebungen wird neu verhandelt, welches Verhalten staatlicher Regulierung unterfallen soll. Und die Digitalisierung eröffnet bislang ungekannte Möglichkeiten des Austauschs, aber auch der Preisgabe persönlicher Informationen. Dabei verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen den Kategorien „privat“ und „öffentlich“. Gleichzeitig ändert sich unser Rechtsverständnis vom Umgang mit dem Privaten. Angesichts dieser großen Trends lohnt es, eine der grundlegenden Fragen des Privatrechts neu zu stellen: Für was steht das Private im Privatrecht?

Erster Themenschwerpunkt ist dabei der Schutz des Privaten. Zu den alten Debatten sind aufgrund der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen neue Diskussionen hinzu-gekommen. Dank neuer Technik sind Bilder schnell aufgenommen und kundgegebene Mei-nungen weltweit einsehbar. Die Spezialgesetze des Informations- und Datenrechts müssen auf diese Entwicklungen genauso reagieren wie Rechtsinstitute des allgemeinen Privatrechts. So lässt sich fragen, inwiefern sich der Inhalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Begriff des Störers geändert haben. Im Erbrecht sieht man sich vor der Aufgabe, dem Schutz des Privaten neue Konturen zu verleihen. Worauf ist beim Umgang mit digitalen Nachlässen zu achten? Inwiefern werden Patientenverfügungen ihrer Rolle gerecht, die auto-nome Entscheidung einer Person an ihrem Lebensende zu sichern? Aus familienrechtlicher Perspektive kann erörtert werden, wie sich Rechtsbeziehungen durch die Möglichkeiten um das Wissen über die eigene Abstammung und das Recht auf deren Kenntnis wandeln.

Der zweite Themenschwerpunkt ist die Diskussion über die Regelung von Privatem. So stellt sich etwa die Frage, inwiefern die tradierten Kriterien zur Abgrenzung zwischen Gefäl-ligkeitsverhältnissen und Verträgen zu überzeugen vermögen. Des Weiteren ist beispiels-weise im Insolvenzrecht eine Tendenz zu beobachten, dass ehemals Privaten überlassene Restrukturierungsverhandlungen staatlicher Regulierung zugeführt werden. Ein entgegenge-setzter Trend lässt sich im Gesellschafts- und Prozessrecht ausmachen. Hier bedient sich das Recht verstärkt der Initiative Privater, um gesellschaftliche bzw. staatliche Vorstellungen durchzusetzen. Welche Erfahrungen wurden bislang mit der gedanklichen Figur der Corpora-te Social Responsibility gemacht? Wie ist der mit der Musterfeststellungsklage gewählte Weg der Verfahrensbündelung bei gleichzeitig geforderter individueller Rechtsdurchsetzung zu bewerten und welche Herausforderungen ergeben sich durch die private Rechtsdurchset-zung im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit? Eine wiederum gänzlich andere Entwicklung zeichnet sich im Arbeitsrecht ab, wenn die kirchliche Loyalitätspflicht zu Gunsten freier Lebensgestaltung zurückgedrängt wird. Hier lohnt sich zu untersuchen, wo und auf welche Weise der staatliche Zugriff auf privates Handeln zu- bzw. abnimmt, wie dies begründet wird und welche Konsequenzen er zeitigt.

Den angesprochenen Themen liegen gemeinsame rechtstheoretische Fragestellungen zu Grunde, die den dritten Themenschwerpunkt bilden. So kann man sich der Beschreibung und Analyse der „Privatrechtsgesellschaft 2020“ auch aus grundlagenorientierter Perspektive annähern. Was genau ist das „Private“ am Privatrecht bzw. wie öffentlich oder politisch ist es? Gehen von der Stadionverbote-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neue Im-pulse in Hinblick auf die Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten aus? Verändert sich das Verständnis des Begriffs des Privaten? Gibt es Bereiche, die traditionell dem Öffentli-chen Recht zugeschlagen gewesen sind und nun eher dem Privatrecht zugeordnet werden oder umgekehrt? Sind solche intradisziplinären Grenzverschiebungen relevant? Welche Antworten auf die Frage nach dem Privaten im Privatrecht halten ausländische Rechtsordnungen parat und welche Erkenntnisse lassen sich daraus für das Privatrecht im deutschsprachigen Raum ziehen? Diese und ähnliche Fragen sollen zur Diskussion stehen.

Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler des Zivilrechts sind eingeladen, ihre Ideen zu diesen Themenkreisen in einem Referat zu präsentieren. Interdisziplinäre und internationale Ansätze sind besonders willkommen.


Organisatorische Details zur Bewerbung für einen Vortrag werden im Call for Papers veröffentlicht.